ORANGEN BEIM PASSAHFEST
Eine Jüdin erzählt von einem ihrer höchsten Festtage:
Jede jüdische Familie hat ihre eigene, einmalige Version der Passah-Feier:
traditionelle Rezepte, bestimmte Gerichte, Rituale, Geschichten und Lieder. Überrascht entdecken wir die Rituale von anderen.
„Ihr bratet eine ganze Lammkeule?" „Ihr singt nicht „Chad Gadya?" „Ihr erzählt Jerusalem-Geschichten?"
Aber bei allen Unterschieden gibt es doch eine Menge von Gemeinsamkeiten. Überall liegen Brotkrümel auf dem Boden.
Überall haben die weißen Tischtücher am Ende Weinflecken. Und auf einem Teller finden sich die typischen Symbole:
Lammfleisch, das an Verschonung erinnert.
Ein hart gekochtes Ei, das an neues Leben erinnert.
Salzwasser, das an die Tränen erinnert.
Bitterkräuter, die an Unterdrückung erinnern,
Petersilie für den Frühling, Nuss-Creme, die an die Ziegel erinnert.
Und für viele von uns kommen noch Orangen dazu.
Die Hebräer, die durch die Wüste fliehen mussten, kannten keine Zitrusfrüchte.
Und auf dem Passah-Tisch meiner Großmutter fand sich keine Valensina.
Aber irgendwann in den 80er-Jahren tauchten auf den Passah-Tischen Orangen auf. Dieser Brauch wurde von Susannah Heschel begonnen.
Für sie war es ein Symbol dafür, homosexuelle Jüdinnen und Juden mit einzuladen.
In den kommenden Jahren wurde es zu einem Symbol für alle, die in unserer Gemeinschaft unterdrückt worden waren, beleidigt oder an den Rand gedrängt.
Dank des Internets konnte sich der Brauch schnell verbreiten. Viele jüdische Frauen nahmen die Idee auf und legten jetzt zusätzlich Orangen auf den Feierabendtisch.
Überall auf der Welt findet sich heute diese Frucht als Symbol von grenzenloser Gemeinschaft.
Unabhängig von der ursprünglichen Idee ist die Orange jetzt ein spirituelles Symbol für uns und ein Statement.
Die Orangen stehen auch für die kreative Frömmigkeit derer, die die Tradition achten, aber sich nicht scheuen, neue Symbole hinzuzufügen.
CHRISTINA BRUDERECK
aus: »Alles hat seine Zeit«