35. KW AUGUST

Lautsprecherdurchsage

Ich stehe am Hauptbahnhof und warte auf den Zug. Plötzlich scheppert es blechern aus den Lautsprechern am Bahnsteig: „Achtung, im Bahnhof sind zurzeit Trickdiebe unterwegs. Seien Sie besonders aufmerksam.“ Ich merke, wie sich in mir sofort etwas verändert: Ich greife reflexartig nach meinem Portemonee, ziehe meinen Rucksack näher an mich heran. Und ich sehe die Leute um mich herum auf einmal mit anderen Augen: Aus Mitreisenden sind von einer Sekunde auf die nächste potenzielle Kriminelle geworden. Betont unauffällig blicke ich mich um und überlege, wer mir besonders verdächtig vorkommt. Ich merke, dass es den anderen Leuten um mich herum ähnlich geht. Alle halten ihr Gepäck fest, Mütter nehmen ihre Kinder an die Hand, eine alte Frau auf einer Bank hält ihren Stock wie einen Knüppel. Ich finde es krass, was so eine Lautsprecherdurchsage macht. Was es bedeutet, wenn jemand sagt: Jemand von Euch ist ein Trickdieb.

Einen Moment lang stelle ich mir vor, wie das wäre, wenn es aus dem Lautsprecher am Bahnsteig scheppern würde: „Achtung! Im Bahnhof ist zurzeit Gott unterwegs. Seien Sie besonders neugierig.“ Wie ich dann die Leute um mich herum angucken würde. Wenn jeder von ihnen Gott sein könnte. Das Gute ist ja: Eigentlich brauche ich die Durchsage nicht. Weil ich glaube: Gott ist immer da. Das nächste Mal am Bahnhof sage ich mir das nochmal selber. Und gucke dann, was das mit mir macht. Und mit anderen.